"Sondheimer hinterfragte Abstinenz als alleinseligmachendes Therapieziel. Für die damaligen Suchtberater, Suchttherapeuten und viele Psychiater, die sich ausschliesslich an absoluter Abstinenz orientierten, war dies revolutionär."

Nachruf Dr. med. Gottfried Sondheimer

 

Am 27. Mai 2024 ist Gottfried Sondheimer, langjähriger Direktor und Chefarzt der Forel Klinik und Pionier in der modernen Behandlung von Sucht- und Alkoholkranken, im Alter von 90 Jahren gestorben.

Gottfried Sondheimer wurde am 21. Januar 1934 in der Nähe von Dresden, Deutschland, geboren und wuchs in Magdeburg auf, von wo er 16-jährig in den Westen floh. Sein Theologie- und Medizin-Studium absolvierte er an der Universität Hamburg. Nach seiner Ausbildung zum Arzt und der Weiterbildung zum Psychiater in Essen trat er 1971 eine Stelle als Oberarzt an der Psychiatrischen Poliklinik Winterthur an. Im Rahmen dieser Tätigkeit baute er dort die Beratungsstelle für Jugend- und Drogenprobleme Winterthur auf und betreute ab 1972 die damalige «Heilstätte Ellikon». Ab 1975 bildete er - unterdessen Leitender Arzt - zusammen mit Gregor Schmid als Verwalter die Direktion, bis er dann 1989 der erste vollamtliche Chefarzt der Forel Klinik wurde. Diese Funktion füllte er bis zu seiner Pensionierung 1997 mit grossem Engagement aus. 

Sondheimers ärztliches Wirken leitete den Umbau der Heilstätte, welche von einem Hausvater geführt wurde, in eine moderne Suchtklinik ein. Mit der Anerkennung als privat geführtes Krankenhaus (1975, durch die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich) wurde ein wichtiger und grosser Schritt für die nachhaltige Weiterentwicklung der Behandlung von suchtkranken Menschen im Schweizerischen Gesundheits- und Sozialsystem möglich. Sucht war für Gottfried Sondheimer eine Krankheit und der Abhängige wurde deshalb neu als Patient und nicht länger als willensschwacher Mensch betrachtet und behandelt. Zudem hinterfragte er Abstinenz als alleinseligmachendes Therapieziel. Für die damaligen Suchtberater, Suchttherapeuten und viele Psychiater, die sich ausschliesslich an absoluter Abstinenz orientierten, war dies revolutionär. Die Bedeutung des psychiatrisch-therapeutischen Gesprächs, der Aufbau therapeutischer Gruppen, das Annehmen des Vis-à-vis als gleichberechtigter Partner, die Erarbeitung gemeinsamer Therapieziele, die Behandlung komorbider Störungen und die Pflege des Versorgungsnetzwerkes standen bei Gottfried Sondheimer im Zentrum. Die Patienten nahmen an Schulungen teil, in denen sie Verständnis für ihr Krankheitsbild entwickelten, das Wissen über die Funktion und Auswirkungen von Alkohol erweitern konnten und hörten, wie sie ihr eigenes Leben selbst positiv beeinflussen können. Heute würde man von Empowerment sprechen. Lange bevor der Begriff des kontrollierten Trinkens aufkam, lehrte Gottfried Sondheimer sein Sucht-ABC (A = totale und lebenslängliche Abstinenz, B = begrenzte Abstinenz über ein Jahr, C = kontrolliertes Trinken). Er öffnete so den Blick auf die verschiedenen möglichen Behandlungsziele. Mit einer Katamnese-Forschungsstelle und der wissenschaftlichen Therapiebegleitung wurde die eigene Arbeit auf ihren Erfolg und ihre Qualität untersucht. Auch hier war Gottfried Sondheimer seiner Zeit voraus. Die in der Regel ein Jahr und länger dauernden stationären Behandlungen verkürzte er drastisch, womit Behandlungen in verschiedenen Settings möglich wurden, z. B. die ambulante Nachbetreuung im Anschluss an die stationäre Behandlung. Damit setzte Gottfried Sondheimer auch die Basis für den Aufbau des Ambulatoriums und der Tagesklinik, welche die Forel Klinik bis heute in Zürich führt.

Was die Wenigsten wissen, ist, dass Gottfried Sondheimer auch ein Pionier in der Behandlung von Jugendlichen und Opioidabhängigen war. Während der 70er-Jahre baute er, unter strengsten Verschreibungsbedingungen, in Winterthur die schweizweit erste Methadonbehandlungsstelle auf. Gottfried Sondheimer war ein begnadeter Lehrer und beliebter Referent. Eine Vielzahl von Fachleuten aus Medizin, Sozialarbeit und Psychologie lernten bei ihm den psychiatrisch-therapeutischen Umgang mit Suchtkranken, die Behandlung junger Menschen in Adoleszenzkrisen, die Theorie und Praxis der Substitutionsbehandlung oder die Prinzipien der Arbeit in Netzwerken.

Gottfried Sondheimer hat den Wandel der Suchtbehandlung massgeblich mitgeprägt, von einem sich an religiös paternalistischen Ansätzen orientierenden Paradigma hin zu einem Ansatz, in dem der selbstverantwortliche Mensch im Zentrum steht und die Behandlung sich an medizinischen, neurobiologischen, psychotherapeutischen und sozialen Erkenntnissen orientiert. 

Wir werden Gottfried als Arzt, Psychiater und Psychotherapeut, Lehrer, Freund und Humanisten in Erinnerung behalten. 

Dr. med. Toni Berthel
Mitglied Verwaltungsrat Forel Klinik AG
Präsident Stiftungsrat Forel Klinik